Gewohnt scharf und pessimistisch ist die Stimme Margaret Atwoods im zweisprachigen Gedichtband »Innigst/Dearly« in der Übersetzung von Jan Wagner. Ihr Ton schwankt darin zwischen Apokalypse und amüsierter Zärtlichkeit für das Menschsein und für einen Planeten, der unter uns zu leiden hat.
Anfänge zwischen Klo und Küchentür
»Was meinen Sie? Wenn ich eine Dauerwelle hätte, würde ich dann sowas machen?« Margaret Atwood zeigt auf die Skriptseiten vor ihr und erzählt von den Anfängen ihrer Dichterinnen-Karriere in einer kanadischen Kneipe »zwischen Klo und Küchen-Schwingtür«. Anfang der Fünfziger waren die Frauen im Publikum vor allem daran interessiert zu erfahren, ob ihre Locken Naturkrause sind.
Atwood las beim Internationalen Literaturfestival 2022 in Berlin aus »Die Füchsin« und »Dearly«. Jan Wagner als ihr Übersetzer und Hildegard Schmal als Sprecherin übertrugen die Worte ins Deutsche. Die gut gelaunte Art, mit der Atwood erzählte, mit dem Publikum flirtete und Jan Wagner neckte, stand im Kontrast zu ihren pessimistischen Texten. Die Gedichte sind durchtränkt von einer Düsterheit, die so gar nicht zu Atwoods eigener heiteren Erscheinung passen will.
Dystopisches Momentum in Echtzeit
Das Letzte, was ich zuvor von ihr gelesen hatte, war »The Heart goes last« von 2015, ein dystopischer Roman über ein gesellschaftliches Experiment in den USA. Die gesamte Bevölkerung einer Stadt geht darin je zur Hälfte abwechselnd zwei Wochen ins Gefängnis. Auf diese Weise soll versucht werden, gleichzeitig der Überbelegung der Strafanstalten und der außer Kontrolle geratenen Kriminalität Herr zu werden. Natürlich steckt – es ist schließlich ein Atwood-Roman – ein gieriger Konzern und ein diktatorisches Regime dahinter, das auch vor der Liquidierung unbequemer Insassen nicht zurückschreckt. Trotzdem zieht das autoritäre Modell viele Freiwillige an, die nicht mehr wissen, wo sie wohnen und wie sie ihre Existenz finanzieren sollen. Die Stelle »Es ist nicht einmal mehr ein Problem,« habe ich damals im Text markiert, »es ist jenseits von einem Problem. Ist ihre einst-schöne Region, ihr einst-schönes Land dazu verdammt eine Ödnis aus Armut und Schutt zu werden?« (Übersetzung von mir). Die Einschläge, z. B. die des Klimawandels und der Bomben, sind seitdem wieder ein Stück näher gekommen und Atwoods apokalyptische Vorstellungen gewinnen wöchentlich an Relevanz.
Generationenwechsel dank Netflix
Ebenfalls im Berlin Verlag erschien 2019 Atwoods »Der Report der Magd« von 1985 als Graphic Novel. Ein Angebot an die nächste Lese-Generation. Dank der Serie »The Handmaid’s Tale«, die mittlerweile auch bei Netflix läuft, hat Atwood beim jungen Publikum einen beispiellosen Popularitätsschub bekommen und nach über 30 Jahren einen fliegenden Generationenwechsel ihrer Leserschaft hingelegt. Und nicht nur das. Die politische Botschaft ist offensichtlich auch angekommen. Bei den israelischen Protesten gegen Netanyahus Justizreform kleiden sich junge Frauen in die rot-weißen Serien-Kostüme.
Mehr Vögel!
Leiser, dafür aber sehr zugänglich, sind die Gedichte in »Innigst/Dearly«, die auf Englisch und Deutsch doppelseitig angeordnet sind und sich beim Lesen gut vergleichen lassen. Atwoods Aussagen sind tief, aber selten kryptisch. Wenn sich doch einmal etwas nicht sofort erschließt, dann hat man das Gefühl, dass man als Leserin gerade Zeugin einer privaten Anspielung wird und man einen Blick in die Familie Atwood werfen darf. Die Gedichte entstanden zwischen 2008 und 2019, und in die Zeit fällt der Tod von Atwoods Ehemann Graeme, einem Ornithologen. Nicht zuletzt deshalb sind Vögel ein Leitmotiv dieser Sammlung.
»Ihr werdet mich noch brauchen«
Ein weiterer Mittelpunkt ist die Kontinuität weiblicher Sozialisation und (Leid-)Erfahrung. In dem neunteiligen Zyklus »Lied für ermordete Schwestern« kommt das lyrische Ich zu dem Schluss: »Singe ich dieses Lied für dich, dann bist du nicht leere Luft.«
Geradezu locker und humorvoll dagegen das Gedicht »Gesundheitskurs«, in dem Atwood ihre schulische Menstruationsaufklärung von 1953 verarbeitet hat. Von »rosa Gelatine« (die kichernden Teenager) und dem »grauen Mond« (die alte Lehrerin), der »dürres Licht« spendet, ist hier die Rede und dass Letztere die Ersteren in der Zukunft erwartet. Auf dem Weg dorthin gibt es viel zu lernen.
Weibliches Leid »als Blumen getarnt«
In »Wie die Prinzessin sich kleidet« steht: »Vieles, was du dir nicht wünschst, kommt als Blumen getarnt daher. Lotusfuß […] gebrochene Knochen«. Damit spielt Atwood auf eine Verkrüppelungsmethode für Frauenfüße im alten China an, die dem damaligen weiblichen Schönheitsideal der Oberklasse entsprach. Ich habe dasselbe Bild der gebundenen Füße einmal in einem Text verwendet und als dieser in einer Schreibgruppe besprochen wurde, meinte die Kursleiterin, sie habe »schon einmal davon gehört«, aber das sei »ja wohl ein Mythos«. Um die erfahrene Autorin nicht bloßzustellen, verzichtete ich auf den Hinweis, dass unter dem Stichwort »Lotusfüße« viele historische Fotos zu finden sind und sogar auch noch zeitgenössische von den letzten chinesischen Überlebenden dieser Tortur. Vielmehr speicherte ich ihre Reaktion als typische Abwehrbewegung, mit der unerträgliche Gewaltdarstellungen, vor allem gegen Frauen, reflexartig ins Reich der Märchen verschoben werden.
»Es wird kein gutes Ende nehmen«
Nicht so bei Atwood. Sie guckt genau hin und legt den Finger in jede Wunde. Sezierend, aber nicht ohne Zärtlichkeit, sogar für die mangelnde Zärtlichkeit der rauen Natur. Diese kann schließlich nichts für den Zustand des Planeten. Schuld ist der Mensch, der wie ein ungeschickter Zauberlehrling auf der Erde herumtrampelt, während er von sich behauptet einfach »ganz normal« zu leben. »Was wir auch anfassen, färbt sich rot.« heißt es in »Götterdämmerung«.
Das große Verlorengehen
Immer mehr kommt der Welt und einem alternden Menschen abhanden: Arten, Dinge, Erinnerungen, die eigene Gehirnleistung. Atwood schreibt über ihre demente Katze, die orientierungslos in der Nacht schreit und über »Traurige Utensilien«, Gegenstände, die nicht mehr gebraucht werden. Am meisten bedauert sie den Verlust nicht mehr benutzter Wörter, die aus der Mode gekommen sind und mit deren Gebrauch man sich als Seniorin outet. Das Titelwort »Dearly« ist so eines im Englischen. Oder die Namen der verschwundenen Tiere in »Herr Löwenherz«: »Vögel brauchen die verlorenen Namen nicht, wir brauchten sie.« In »Silberne Schuhe« sitzt das lyrische Ich als Übriggebliebene einer anderen »Abwesenheit gegenüber«: dem verstorbenen Partner.
Triumph übers Klischee
Solche Stellen wird Atwood gemeint haben, wenn sie zu Beginn des Buches selbstkritisch von »dreifach zernagten Liedern« und »zerschlissenen Refrains« spricht. Sie selbst und zahllose Dichterkolleg:innen haben das Altwerden zum Thema gemacht, und trotz der erdrückenden Allgemeingültigkeit, schafft es Atwood bei jeder Erfahrung, die Kurve weg vom Klischee zu kriegen.
In »Winterurlaube« z.B. wendet sich der Besitz, den sie angehäuft hat, hier ein T-Shirt–Haufen auf dem Boden, gegen die alternde Besitzerin, für die er zur Stolperfalle wird. So wie das angehäufte Material, wird auch der Körper, »vormals Komplize«, zunehmend zur Belastung und »Winterurlaube« endet auf einer melancholischen Note: »Ist es noch weit?«
Gespräche mit den Nachgeborenen
Im Titelgedicht »Innigst« wird es dann aber wieder witzig, wenn ein lyrisches Oma-Ich den Pre-Teens in der Familie erklären will, was ein Polaroid war. »Man machte das Foto, und das kam dann oben raus«. »Wo oben?«, kommt es zurück. Unbeirrt hält sie an der Weitergabe von Erfahrung an nachfolgende Generationen fest, wie im Schlussgedicht »Brombeeren«, in dem eine Beeren- und Lebensweisheit geteilt wird: »Es ist so, wie ich dir immer gesagt habe. Die besten wachsen im Schatten.«
Das Vergessen wird immer beliebter
Dabei bieten gerade die nachfolgenden Generationen bei Atwood oft keinen Anlass zur Hoffnung. In ihrem Roman »The Heart goes last« markierten im E-Book 92 Leser:innen eine Stelle, an der die medikamentös herbeigeführte Amnesie beschrieben wird: »Das Vergessen wird immer beliebter bei der Jugend und selbst bei denen im mittleren Alter, denn warum sollte man sein Gehirn behalten, wenn keinerlei Denkanstrengung auch nur ein Anfang zur Lösung des Problems sein kann.« (Übersetzung von mir).
Vielleicht ist es mit Denkanstrengungen nicht getan. Wahrscheinlich brauchen wir für das Gelingen dieses Jahrhunderts die intuitive Kraft der Poesie. Ihre Gedichte schickt Atwood daher mit einem Appell in die Welt: »Lasst uns alle miteinander hoffen«.
Isa Tschierschke
Margaret Atwood; Jan Wagner (Übersetzung): Innigst / Dearly: Gedichte eines Lebens / Poems of a Lifetime. Gebundene Ausgabe. 2022. Berlin Verlag. ISBN/EAN: 9783827014689. 28,00 €
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