Der Tod ist auch nur ein Mann –

48 Jahre lang hieß es bei uns, dass meine Mutter bald sterben werde.

1969, ich war gerade fünf geworden, bekam ich zum ersten Mal mit, dass meine Mutter im Krankenhaus war und man sich »Sorgen machen« müsse. Als ich auf diese Nachricht hin zu weinen anfing und stammelte: »Und wenn der Tod heute …« unterbrach mich mein Vater mit müdem, aber bestimmten Tonfall: »Ach Kindchen, da müsste er schon einen besonders guten Tag haben.«

Mit den Jahren verstand ich, was er meinte. Wenn man versuchte, mit meiner Mutter auf eine gemeinsame Unternehmung zu gehen – von einer Reise, womöglich einer langen, will ich gar nicht erst sprechen – musste man sichauf Dutzende raffiniert ineinander greifende Verzögerungen gefasst machen.
»Können wir jetzt bitte?«
»Moment, ich muss nur noch eben…« (Blumen gießen, Briefkasten leeren, Schuhe putzen, Oma anrufen…)

Sollte mein Vater doch einmal ans Ende seiner endlosen Geduld kommen, ging meine Mutter zum Angriff über.
 »Du bist es doch, der hier trödelt.«
 Etwas Ähnliches würde sie dem Sensenmann auch sagen.
 »Du bist ja noch gar nicht richtig angezogen. Oder willst du etwa mit dem schwarzen Flatterding da unter die Leute gehen? Nicht mit mir. Dann bleibe ich hier. Zieh’ du dir erstmal mal was Ordentliches an.« »Ich äh.« Schuldbewusst würde der Tod an sich hinunterschauen und zugeben müssen, dass er sein Outfit in letzter Zeit nachlässig gehandhabt hat.

Als Ende 2017 der Anruf aus der Notaufnahme kam, hatte das Pflegeheim mich schon darüber informiert, was passiert war. Das Krankenhaus meinte, meine Mutter habe wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit und ich solle am besten sofort vorbeikommen. Es war 23 Uhr und es war ein langer Tag gewesen. Zu dritt hatten wir den 150 km weiten Umzug von Mutters Möbeln ins Pflegeheim durchgeführt.

»Ich kenne doch meine Mutter,« hörte ich mich sagen. »Ich gehe jetzt erstmal ins Bett und komme morgen früh
«
 Ich hörte die tonlose Verblüffung am anderen Ende und nach dieser Pause sagte die Mitarbeiterin.
 »Wie Sie meinen, aber wenn der Tod…« Ich unterbrach sie in müdem, aber bestimmten Tonfall.
 »Ach Schwester, da müsste er schon einen extrem guten Tag haben«.

Meine Mutter lebte noch fast eine Woche.


Lesezeit: 2,5 Min

* Ursprünglich gegründet von Barbara Fellgiebel als Assoziation der Literatur- und Filmfreunde der Algarve

Beitragsbild: Yomex-Owo via Unsplash