Ein Deutschdrama der Oberstufe in vier Akten –
12.1
Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet. Und mich auch fast. Vor Langeweile.
12.2
Naturlyrik: Vorfrühling (1914) von Ernst Stadler: „Schicksal stand wartend in umwehten Sternen, in meinem Herzen lag ein Stürmen wie von aufgerollten Fahnen.“ Der Dichter fiel noch im selben Jahr 31jährig bei der ersten Flandernschlacht.
Nebenan im Berufskolleg lesen sie Frühlings Erwachen. Da gibt’s eine 14-Jährige, die bei einer missglückten Abtreibung stirbt. Und einen Schülerselbstmord („Die Königskerzen waren über und über mit Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden umher.“). Dagegen erscheint uns unsere bisherige Lektüre etwas unreif.
Aber dann kommt der Frisch. TIs Lektüretest-Anweisung zu Homo Faber lautet: „Erstellen Sie eine Liste aller Leichen im Buch mit den dazugehörigen Todesarten“. Als Deutschlehrerin muss man wohl einen schrägen Humor haben. Also suchen wir alle raus: Walter Faber selbst (Magenkrebs), sein Kollege (vergessen, wahrscheinlich Altersschwäche), Sabeth (Schlangenbiss und ungeschicktes Rückwärtslaufen mit Sturz und Hirnblutung – da wollte der Autor wohl ganz sicher gehen). Als wir Joachim endlich auf S. 55 finden, riecht er schon ziemlich: „ Ich erkannte ihn nicht mehr. Zum Glück hatte er’s hinter geschlossenen Fenstern getan, Zopilote auf den Bäumen ringsum, Zopilote auf dem Dach, aber sie konnten nicht durch die Fenster. Man sah ihn durchs Fenster. Trotzdem gingen diese Indios täglich an ihre Arbeit und kamen nicht auf die Idee, die Türe zu sprengen und den Gehängten abzunehmen. – Er hatte es mit einem Draht gemacht.“ Die ersten Weicheier winseln: „Warum müssen wir so was lesen?“ Neben mir verliert der Nächste die Nerven: „Was sind das für kranke Hirne, die so was erfinden?“
„Und erst die Lehrer, die das für uns aussuchen!“
„Alles Freizeit-Psychopathen.“
„Kissenpupsende Tatort-Gucker!“
TI lächelt verträumt: „Ich mag Ballauf am liebsten“. Keiner versteht die Bemerkung.
Nebenan im BK hat sich der Werther erschossen.
Im Juli sind wir so ziemlich die Einzigen, die das erste Jahr Deutsch mit TI überlebt haben.
13.1
Es ist Herbst, also gibt’s wieder Naturlyrik: „Ein Baum ist ihr Galgen, ihr Kreuz ein Baum auf dem Hügel, ein Baum in der Erde ihr Sarg, …“ (Erich Fried, die Bäume). Okay, was soll man 1946 auch anderes schreiben?
Dann der Büchner. Nach drei Wochen mediengestützter Lektürebesprechung und einem halben Dutzend Arbeitsblätter stellt plötzlich jemand fest: „Dieser Danton hat ja wirklich gelebt“. Mag sein, aber jetzt ist er auch tot. Damit er auch wirklich checkt, dass ihm die Hinrichtung droht, sagt Robespierre zu ihm so Sachen wie: „Lasterhaftigkeit ist mitunter Hochverrat“. Das kennen wir auch. Schulleiter K. würde einfach sagen: „Junge, das kostet dich den Kopf!“ Geholfen hat’s nichts. Büchner wurde übrigens nur 23 Jahre alt.
13.2
Moderne Kurzprosa. Da kennen wir schon Einiges. Wolfgang Borchert z.B. Aber TI wirkt plötzlich genervt vom ständigen Sterben. Vielleicht, weil sie in den Herbstferien ihre Mutter begraben hat.
„Nein, wir lesen jetzt nicht die blöde Küchenuhr!“
Borchert starb mit 26. Wir bearbeiten dann eine frühere Abiaufgabe, wo der Erzähler nur überlegt sich umzubringen. Mein Nebensitzer titelt in seiner Hausaufgabe: „Der Tod ist ein Meister aus dem Deutschunterricht“.
Nebenan im Berufskolleg gibt’s dieses Jahr Der Trafikant von Robert Seethaler (den kennt TI aus dem Tatort). Ich frag einen, worum’s da geht.
„Zivilcourage.“
„Lass‘ mich raten: Alle, die welche haben kommen um, die Feiglinge bleiben am Leben.“
„Bingo.“
„Was soll man dabei lernen?“
Da mischt sich TI ein.
„Das sind Erwachsene. Die sollen nichts mehr lernen. Die bringt man zum Lesen, indem man sie in ihrer Resignation bestärkt“.
„Wie jetzt?“
„Ach, fragen Sie doch die Hobby-Pessimisten in der Auswahlkommission.“
Bei den Berufsfachschülern in der Zweijährigen wird Tschick gelesen.
„Stimmt es, dass da gar nicht gestorben wird?“
„Es gibt Unfälle,“ verteidigen sie sich.
„Keine Leichen?“
„Naja, tiefgefrorene Schweinehälften, die auf der Autobahn verteilt werden.“ Definitiv kein Oberstufenniveau.
Da kommt die WhatsApp aus dem BK.
„Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen tun kann, wir haben schon lange so keinen gehabt“. Woyzeck ist durchgedreht.
Im April sind wir bereit fürs Abi, also die vergleichende literarische Betrachtung verschiedener Todesarten. Irgendein Komiker hat auf die Tafel gekritzelt:
„Agnes lebt!“
Draußen liest die Fluraufsicht in den Manuskripten für die Abi-Zeitung. Als ich rauskomme, fragt er mich: „Wieso eigentlich nur vier Akte“?
Ich guck ihn nur an und denk mir: „Alter, ey, die ganzen zwei Jahre waren fünfter Akt!“
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